Dr. med. James Tyler Kent und sein Einfluß auf die Homöopathie

Die Homöopathie kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Nordamerika und setzte sich dort schnell durch. Bereits ab 1840 wurden Hahnemanns Schriften ins Englische übersetzt. Dadurch erlangte seine Lehre noch einmal viele neue Befürworter. Der wichtigste von ihnen war der Amerikaner Dr. James Tyler Kent. Er hat die homöopathische Welt maßgeblich beeinflusst und die Lehren Hahnemanns in einer gut verständlichen Form weitergegeben.

Dr. James Tyler Kent erblickte am 31. März 1849 in Woodhull im Staat New York als Sohn Stephan Kents und Caroline Tylers das Licht der Welt. Er besuchte die Grundschule am «Franklin College» in Prattsburg, danach wechselte er an die Mittelschule in seiner Geburtsstadt. Bereits im Alter von neunzehn Jahren gelang es ihm, an der «Madison Universität» in Hamilton den «Bachelor of Philosophy» zu erhalten. Im Jahr 1870 schloß er am «Medical College» von Bellevue mit dem M. A. (Master of Arts) in Medizin ab. Dort erhielt er schließlich im Alter von 25 Jahren das Diplom als praktischer Arzt. Außerdem studierte er noch an der eklektischen Medizinfakultät in Cincinati im Staat Ohio. Diese Universität bot neben den üblichen allopathischen Behandlungsmethoden auch Vorlesungen in Naturheilkunde und Chiropraktik an. Im Jahr 1874 eröffnete Kent seine Praxis in St. Louis, Missouri und begann dort als Arzt zu praktizieren. Zudem zeichnete er sich als Autor von Beiträgen in verschiedenen medizinischen Zeitschriften aus und wurde somit ein geschätztes Mitglied der «Nationalen Vereinigung eklektischer Ärzte». Im Alter von nur 28 Jahren wurde ihm der Anatomielehrstuhl am «American Medical College» in St. Louis zugeteilt. Er schrieb weiterhin medizinische Abhandlungen und veröffentlichte im Jahr 1879 sein erstes Buch mit dem Titel «Sexual Neuroses» welches in Fachkreisen positiven Anklang fand.

Kents Kontakt mit der Homöopathie

James Tyler Kent widmete sich als junger Professor hauptsächlich dem Studium der Anatomie, einem Fach mit sichtbaren Gegebenheiten. Die Lehren der Homöopathie hingegen, in denen mit dynamischen Heilmitteln gesundheitliche Erfolge erzielt werden konnten, erschienen ihm als höchst fragwürdig und fernab jeglicher Realität. Dennoch kam er durch die lang anhaltende Erkrankung seiner Frau Lucy - die zuvor über mehrere Monate hinweg erfolglos allopathisch behandelt worden war - näher mit der Homöopathie in Berührung. Lucy Kent wurde jeden Tag schwächer, sie litt an Schlaflosigkeit und Blutmangel. Schließlich rief man Kents Nachbarn, Dr. Phelan, einen alten Homöopathen, an das Krankenbett seiner Frau. Zum Erstaunen Kents gelang es dem Arzt mit Hilfe der Homöopathie, die Gesundheit seiner Frau innerhalb weniger Wochen wieder herzustellen.

Vom Allopathen zum Homöopathen

Dieses einschneidende Erlebnis beeindruckte Kent so tief, dass er sich von Dr. Phelan in die Lehren der Homöopathie einführen ließ. Er studierte eindringlich das «Organon»  Hahnemanns, das Hauptwerk der Homöopathie sowie die gesamte ihm damals darüber in den Vereinigten Staaten zugängliche Literatur. Sein wachsendes Interesse beeinflusste ihn so sehr, dass er sich endgültig von der eklektischen Schule distanzierte. So trat er im Jahr 1881 aus der «National Eclectic Medical Association» aus, gab seine Anatomieprofessur auf und beschäftigte sich nur noch mit der homöopatischen Behandlungsmethode. Neben seiner gut gehenden homöopathischen Praxis übernahm er am «Missouri Homeopathic Medical College» den Lehrstuhl für Anatomie mit dem Hintergrund, den Standard der homöopathischen Schulen zu verbessern. Zudem wurde er 1882 Professor für Chirurgie am gleichen Institut und ein Jahr später erhielt er den Lehrstuhl für Arzneimittellehre.

Als am 23. Januar 1888 der namhafte homöopathische Arzt Adolph Graf zur Lippe verstarb, zog Kent nach Philadelphia, um dessen Praxis zu übernehmen. Dort lehrte er die Methode der Homöopathie an verschiedenen Institutionen und übernahm bis zum Jahr 1889 die Stelle des Dekans an der «Postgraduate School of Homeopathics», die damals zu den renommiertesten homöopathischen Ausbildungsstätten zählte. Während dieser Zeit starb seine Frau Lucy. Um dem tiefen Schmerz seines Verlustes zu entgehen, konzentrierte er sich noch intensiver auf die Lehre der Homöopathie. Kent prüfte an sich und seinen Studenten 28 Substanzen, 14 davon waren bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt. Danach nahm er die Stoffe «Alumina phosphorica», «Alumina silicata», «Aurum arsenicum»,  «Aurum iodatum», «Aurum sulfuricum», «Barium iodatum», «Barium sulphuricum», «Calcarea silicata, «Cenchris contortrix», «Ferrum arsenicum», «Kalium silicatum», «Natrium silicatum», «Vespa vulgaris» und «Zincum phosphoricum» neu in die Arzneimittellehre auf.

Höhen und Tiefen

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lernte Kent die Ärztin und Homöopathin Dr. Clara Louise Tobey kennen, die er später heiratete. Sie war Kent eine grosse Stütze und half ihm zeitlebens bei seinen schriftlichen homöopathischen Arbeiten und Veröffentlichungen. Im Alter von 51 Jahren siedelte er mit seiner neuen Frau nach Chicago über, um die Stelle des Dekans am «Dunham Homeopathic Medical College» anzutreten. Dort unterrichtete Kent die homöopathische Philosophie und Repertorisation sowie die Lehre der «Materia Medica». Drei Jahre später entstand durch Zusammenlegung des «Dunham Homeopathic Medical College» mit dem «Hering Medical College» eine neue Universität, in der Kent zum Professor und Dekan ernannt wurde. Das neue Bildungszentrum nannte sich fortan «Hering Medical College». Zudem lehrte er ab dem Jahr 1905 am «Hahnemann Medical College» in Chicago das «Organon», «Materia Medica» sowie den Gebrauch des Repertoriums mit Krankenvorstellungen. Kent stand zu diesem Zeitpunkt auf der Höhe seiner Arbeitsleistung und seine Popularität war ungebremst.

Nach weiteren elf Jahren intensiver Arbeitsbelastung erschöpften sich seine Kräfte. Seit längerer Zeit erkrankt, entschied er, sich etwas Ruhe zu gönnen. So begab er sich im Jahr 1916 in sein Ferienhaus in Sunnyside Orachard, Montana, um sich von seinem Bronchialkatarrh zu erholen. Sein gesundheitlicher Zustand spitzte sich jedoch durch das Aufreten einer Nierenentzündung zu, sodass er zwei Wochen später am 16. Juni 1916, im Alter von 67 Jahren verstarb.

Wegbereiter der modernen Homöopathie

Die Homöopathie hat mit James Tyler Kent einen begnadeten Natur- wissenschaftler und Arzt gewonnen. Er brachte die Heilweise Hahnemanns voran, ohne dabei die Grundsätze der Homöopthie zu verändern. Der Autor von wichtigen Büchern und Professor der homöpathischen Arzneimittelellehre hinterließ der Nachwelt seine Ausführungen zur Philosophie der Homöopathie, die großen theoretischen und praktischen Wert besitzen. Zudem führte er die bis dahin noch unbekannten Hochpotenzen ein. Aus seinen Studenten gingen viele bekannte Homöpathen wie Dienst, Thacher, Green, Loos, Austin, Gladwin, F. Woods, Sir Johne Weir und B. K. Bose hervor.

Seine drei Hauptwerke sind:

  • «Lectures on Homeopathic Materia Medica» (deutsch: Vorlesungen über homöopathische Arzneimittellehre). Es werden 183 Arzneimittel anschaulich beschrieben.
  • «Lectures on Homeopathic Philosophy» (deutsch: Zur Theorie der Homöopathie). Das Buch legt in verständlicher Form das «Organon» sowie die philosophische und spirituelle Seite der Homöopathie dar.
  • «Repertory of the Homeopathic Materia Medica». Ein Repertorium, ein Symptomenverzeichnis der damals geprüften Arzneien.

Weiterführende Literatur zum Thema Homöopathie!

Die «Lectures on Homoeopathic Philosophy» sind auch heute noch die wichtigste theoretische Abhandlung zur Klassischen Homöopathie. Pierre Schmidt hat die schwer verständliche amerikanische Originalausgabe einer gründlichen Sichtung unterzogen, seine Bearbeitung diente Jost Künzli als Vorlage für die Übersetzung. In Zweifelsfällen hat Schmidt die Ansichten direkter Kent-Schüler konsultiert, so dass Kents Idee nirgends verfälscht wurde. Von besonderem Wert sind Kents Ausführungen zu Hahnemanns «Organon» und «Die Chronischen Krankheiten». Diese Neuherausgabe wurde ergänzt durch eine Kent-Biographie Pierre Schmidts sowie ein Vorwort von Dario Spinedi. Kents «Theorie der Homöopathie» gehört zu den Werken, mit denen sich jeder homöopathische Arzt intensiv auseinandergesetzt haben muss.

Zur Theorie der Homöopathie, Vorlesungen über Hahnemanns Organon
Übersetzt von J. Künzli von Fimmelsberg
Nach einer Bearbeitung von P. Schmidt

Verlag: Haug