Wenn die Seele verletzt ist...

...Trauma und Traumabehandlung

Etwa zwei Drittel aller traumatisierten Menschen schaffen es mit der Zeit, ein bedrohliches Geschehen zu verarbeiten, sofern ihnen Ruhe und Sicherheit gegeben wird. Das restliche Drittel bleibt jedoch traumatisiert.

Ich war von Kindheit an bis zum Alter von vierzig Jahren eine multiple Persönlichkeit. Heute heisst das Krankheitsbild «Dissoziative Persönlichkeitsstörung» und fällt unter die Kategorie «traumatische Erlebnisse», sagt Ursula Hächler (Name geändert). «Meine Seele war aufgrund von starker Gewalt innerhalb der Familie zersplittert, und es lebten in mir viele Charaktere mit unterschiedlichen Meinungen und Empfindungen». Dissoziative Reaktionsmuster sind prägnante Konsequenzen psychischer Traumatisierung. Heftige Erlebnisse, Emotionen oder Körperempfindungen können in tiefgreifenden belastenden Lebenslagen seelisch nicht verarbeitet werden. Diese speichert das Bewusstsein als Erinnerungsbruchstücke an unterschiedlichen Orten im Gehirn ab, sie können so nicht mehr als Ganzes zusammenhängend erinnert werden. Ohne adäquate Traumatherapie bleiben sie dem Betroffenen weitgehend unbewusst. Bei Traumatisierungen in der Kindheit kann es daher häufig zu Abspaltungen in mehrere Identitätsbereiche oder Altersstufen kommen. «Meine Kindheitserinnerungen drehten sich hauptsächlich um meinen dominanten Vater und meine wehrlose Mutter, unter denen ich zu überleben versuchte, was mir nur unter grosser Anstrengung gelang» erklärt Frau Hächler. «Fast mein ganzes Leben fühlte ich mich ständig aufgeregt, hatte Suizidgedanken und kam zu keiner inneren Ruhe, bis ich nach jahrelangen erfolglosen Psychotherapien einen Behandler fand, der sich im Umgang mit traumatisierten Menschen auskannte. Meine Erregungs- und Angstzustände, die Schreckhaftigkeit, die ich in mir spürte und meine depressiven Phasen passierten einfach, ohne das ich die Kontrolle darüber hatte», weiss Ursula Hächler zu berichten. «Mein Vater gab sich dem Alkohol hin, er wurde dann meist extrem gewalttätig und verprügelte uns, gelegentlich peitschte er uns sogar mit der Hundeleine aus, und das alles hinter der Fassade einer gutbürgerlichen Familie. Irgendwann spürte ich die Schmerzen nicht mehr, schaltete einfach ab und war oft teilnahmslos. Gewalt war bei uns an der Tagesordnung.» Wie kommt man im Leben mit solchen Ereignissen zurecht, werden Sie sich fragen. «Man eignet sich bestimmte Überlebensstrategien an, es ist ein ausgeklügelter Schutzmechanismus, der hier greift», erklärt Ursula Hächler.

Was ist ein Trauma?

Ein Trauma ist ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis, das von aussen kommt und dann erst zu Tage tritt, wenn die betroffene Person extreme Angst entwickelt und die normale Reaktion darauf - wie Flucht oder sich zur Wehr setzen - nicht möglich ist. Besonders belastend sind seelische Erschütterungen, die innerhalb der sozialen Beziehungen in der Familie verursacht wurden: Vor allem sexueller Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung oder jahrelange Geringschätzung und das Blockieren von Fähigkeiten bei Kindern führen zur Traumatisierung. In einem solchem Fall gerät die betroffene Person unter Dauerspannung, Angst und Panik. Gerade in der Kindheit sind solche traumatischen Erlebnisse am schlimmsten, weil Kinder noch nicht die über Möglichkeiten des Schutzes und der Verarbeitung verfügen wie ein Erwachsener. «Wie eine Person auf ein traumatisches Erlebnis reagiert, hängt auch davon ab, welche Bindung sie als Kind zu nahen Bezugspersonen hatte», erklärt die Dipl. Sozialarbeiterin (HFS), Elsbeth Aeschlimann von der Opferberatung Zürich. «Jeder Mensch hat ein biologisch angelegtes Bindungssystem. Es wird aktiviert, sobald eine Gefahr eintritt. Kann diese Bedrohung aus eigener Kraft nicht bewältigt werden, wird das Bindungsverhalten zu einer Vertrauensperson wie beispielsweise der Mutter oder dem Vater aktiviert. In diese Bindung gehen diejenigen Gefühle und Verhaltensmuster ein, die ein Kind von den Eltern gelernt hat. Dieses Bindungsmuster prägt sich bereits während des ersten Lebensjahres aus und bleibt in seinen Grundstrukturen weitgehend erhalten», führt die Sozialarbeiterin weiter aus. Gibt es jedoch für das Kind keine Sicherheit durch eine Vertrauensperson, reagiert es im Erwachsenenalter unter anderem mit sozialem Rückzug oder Teilnahmslosigkeit gegenüber seiner Umgebung.

Angriff aus dem Nichts

Das Gebiet «Trauma» ist sehr vielschichtig. Man kann es nach unterschiedlichen Kriterien einordnen: Zu traumatischen Ereignissen zählen zum einen Naturkatastrophen, Kriege, kriminelle Handlungen, Terroranschläge, der Verlust einer nahen Bezugsperson oder Unfälle, zum anderen Gewalt oder sexueller Missbrauch innerhalb der Familie oder dem näheren Umfeld, was jedoch seltener thematisiert wird. Dennoch sind gerade diese Traumata extrem schwerwiegend, vor allem dann, wenn seelische Verletzungen von einem Menschen auf den anderen übertragen werden.

Nicht umsonst bedeutet das Wort «Trauma», das aus dem griechischen stammt, «Verletzung». Bei Menschen mit frühen Beziehungstraumata, die ihnen von Bezugspersonen zugefügt wurden, gibt es Defizite in der Fähigkeit zur Einordnung ihrer Empfindungen. So ist Dissoziation oft die einzige Möglichkeit, sich zu schützen. Dissoziation bedeutet «Abspaltung» - im Gegensatz zur Assoziation, die eine Verbindung oder Verknüpfung bezeichnet. Die Betroffenen spalten ihre traumatischen Erlebnisse ab, die sie in ihrer frühesten Kindheit immer und immer wieder erfahren haben, um sich vor massiven Gefühlen wie Todesangst oder starken Schmerzen abzuschirmen. Die Abspaltung findet statt, weil die Ereignisse unerträglich sind. Dissoziation kann hierbei als eine natürlich angelegte Fähigkeit der Psyche verstanden werden. Die Abspaltungen verhindern eine Überflutung des Bewusstseins mit Reizen und verbessern so die Reaktionsmöglichkeit der betroffenen Person in schwierigen Situationen. Damit ein von aussen kommendes, extremes Geschehen zum Trauma wird, muss eine Menge passieren: Das Informationsverarbeitungssystem Gehirn wird derart überflutet, dass die Person den Eindruck bekommt, «als täte sich ein Abgrund auf», in den man hineinstürzt, wie man dem Beispiel Ursula Hächlers Erzählungen entnehmen kann. Der ansonsten harmlose Vater wird plötzlich und ohne Vorwarnung zum Angreifer, von dem man körperlich sehr schmerzhafte Schläge hinnehmen muss. «Die betroffene Person durchlebt eine Extremsituation, auf die sie nicht vorbereitet ist. Diesen Zustand nennt man in der Psychotraumatologie eine 'Überflutung von aversiven Reizen'», erklärt Elsbeth Aeschlimann. Ist die oder der Betroffene mit der psychischen Verarbeitung überfordert, kann das zu schwerwiegenden Gesundheitsstörungen führen. Langzeitstudien haben ergeben, dass Betroffene schwerer Kindesmisshandlung gegenüber jenen Menschen, denen ein Psychotrauma nicht widerfahren ist, viel häufiger an chronischen Schmerzzuständen, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Krebs oder Leberschäden erkranken. Ausserdem können sich die negativen frühkindlichen Erfahrungen erst viele Jahre später als sogenannte posttraumatische Belastungsstörung bemerkbar machen. «Daher ist eine auf die Person adaptierte Psychotherapie wichtig, eine Psychoanalyse hingegen hilft hierbei oft nicht, weil sie häufig sogar zu einer Verschlimmerung der Situation beiträgt», berichtet die Sozialarbeiterin von der Opferberatung Zürich. Eine solches Psychotrauma, wie Ursula Hächler es erlebt hat, erfordert daher ein besonders sensibles Herangehen. So kann das Wiedererinnern ein Trauma oft verschlimmern. Häufig führt eine konventionelle Psychotherapie zu einer unbeabsichtigten Verschlechterung des Gesamtzustandes, weil allein schon das blosse Erzählen der Gefühlszustände eine hohe Wahrscheinlichkeit der Retraumatisierung in sich birgt. Dies trägt dann nicht zur Entlastung bei, sondern mündet häufig in einer Destabilisierung der Persönlichkeit.

Die Macht der inneren Bilder

Die moderne Traumapsychotherapie hat in den letzten Jahren eine große Bedeutung erlangt. Dabei werden neben dem vorsichtigen Herantasten an das Trauma auch Phantasiebilder, Traumreisen und Visualisierungen in Form spezieller Übungen genutzt, um Beschwerden wie Angstzustände oder depressive Phasen abzumildern. «Eine Traumatherapie kann mit Beruhigung, Sicherheit, Zuwendung und Stabilisierung beginnen», sagt Elsbeth Aeschlimann, «denn nach einem Trauma besteht häufig eine grosse Sehnsucht nach einer heilen Welt, die jedoch real nicht existiert. Allerdings sind viele Menschen in der Lage, sich mit ihrer eigenen Vorstellungskraft eine solche innere Welt voller Sicherheit und Schutz aufzubauen. Deshalb stehen am Beginn einer traumatherapeutischen Begleitung oft sicherheitsvermittelnde Vorstellungsübungen.» Ein weiteres Training ist die Achtsamkeitsübung, sie ist eine mediative Technik, mit der man das Kommen und Gehen von Gedanken oder Gefühlen im Hier und Jetzt einfach zulässt, ohne sie zu bewerten. Im weiteren Verlauf der Therapie werden noch andere imaginative Verfahren eingesetzt, wie zum Beispiel das Einsperren der unangenehmen Gefühle in einen Tresor oder das Einschliessen von Päckchen, die man aus der Vergangenheit mit sich herumschleppt, in sichere Behältnisse.

Erste Hilfe bei akutem Trauma

Bei Verdacht auf traumatische Erlebnisse hilft die Opferberatung Zürich: www.obzh.ch/
Weitere Infos zur häuslichen Gewalt finden Sie auch auf der Website: www.gewaltschutz.info

Akutes Trauma
Wenn Sie wieder an einem Punkt angelangt sind, an dem sich verheerende innere Bilder Raum verschafft haben, die keinerlei Bezug zu Ihrer aktuellen Situation haben, fühlen Sie sich oft ausgeliefert oder hilflos, wie ein kleines Kind. Stellen Sie sich nun einen sicheren Ort vor, der Ihnen Zuflucht und Schutz bietet. Nehmen Sie diesen inneren Ort mit allen Sinnen wahr und bevölkern sie ihn mit freundlichen, gütigen Wesen aus Ihrer Vorstellung, die sich liebevoll und schützend um Sie kümmern. Schotten Sie diesen Ort durch eine Begrenzung nach aussen ab. Dazu können Sie sich zum Beispiel einen Schutzschild aus Energie oder Licht vorstellen, der die Aussenwelt fernhält und nur das herein lässt, was Ihnen gut tut und Ihnen hilft, sich geborgen zu fühlen.

Kräuterteemischung gegen Angstzustände
Die Natur bietet eine Fülle von wirksamen Kräutern, die Körper und Geist positiv beeinflussen. Diese Teemischung aus getrockneten Kräutern hat einen entspannenden und angstlösenden Effekt auf die Seele und unterstützt hierbei die Gesundheit.
- 20 g Melissenblätter
- 10 g Pfefferminzblätter
- 15 g Baldrianwurzel
- 20 g Orangenblüten
- 20 g Passionsblumenkraut
Zubereitung:
Die Kräuter mischen und zwei Teelöffel der getrockneten Droge mit heißem Wasser übergießen, 10 Minuten ziehen lassen, abseihen und drei Tassen täglich trinken.

Weiterführende Literatur!

"Ich habe immer gedacht, ich bin verrückt. Manchmal fehlten mir Stunden oder Tage, und ich wusste nicht, was in der Zeit passiert war. Und dann begann ich auch noch, Stimmen zu hören. Ich habe wirklich gedacht, ich bin verrückt." Doch Sarah S. ist nicht verrückt. In ihr leben Anna, Herta, Lolita und Tom, kleine Kinder und starke männliche "Beschützer", insgesamt über 50 "Personen". Sarah ist ihre "Gastgeberin", die im Alltag die meiste Zeit den Körper nach ihrem Bewusstsein steuern konnte. Sarah ist eine multiple Persönlichkeit. Ihre "Personen" sind abgespaltene Teile von ihr, entstanden durch schwere Traumata: vom Vater gequält und vergewaltigt, von der Mutter mal liebevoll, mal grausam behandelt, von den Eltern an einen Kinderpornografie-Ring "verkauft", konnte Sarah nur überleben, indem sie sich aufspaltete, ihr "Ich" aufgab und jeweils neue »Personen« schuf, die mit der Gewalt umgehen und die Erinnerung daran speichern mussten. Dieses Buch erschien erstmals 1995 und war damals das erste deutschsprachige Sachbuch zum Thema "Multiple Persönlichkeitsstörung" bzw. "Dissoziative Identitätsstörung". Diese Ausgabe ist ein durchgesehener Nachdruck des inzwischen zum "Klassiker" gewordenen Buches.

Multiple Persönlichkeiten
Seelische Zersplitterung nach Gewalt
von Michaela Huber

Taschenbuch: 320 Seiten
Verlag: Junfermann

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Trauma: Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen
Trauma stellt eine Verletzung der Seele dar. Menschen, die davon betroffen sind, erleben ihr Innenleben durch unbegründete Ängste als extrem belastend. Das Buch hilft Ihnen, bestimmte Situationen besser zu verstehen und diese angstfrei zu meistern.

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Menschen, die seit Kindesbeinen Gewalt erfahren haben, entwickeln oft zur Abschirmung ihrer Persönlichkeit Abwehrmechanismen gegen Angst- und Schmerzzustände. Das Werk beleuchtet die Problematik von vielen Seiten und will damit Aufklärungsarbeit leisten.

Psychotherapie der dissoziativen Störungen
Es handelt sich bei Multiplen Persönlichkeiten, also der dissoziativen Identitätsstörung, um das Vorhandensein von mehreren Identitäten innerhalb einer Person. Das fachkundige Autorenteam berichtet in seinem Buch über verschiedene Krankheitsmodelle und eröffnet damit neue Therapieansätze.

Der innere Garten
Die Traumatherapie hat innerhalb der Psychotherapie in den letzten Jahren eine große Bedeutung erlangt. Dabei werden Traumreisen oder Visualierungen in Form von speziellen Übungen genutzt, um Beschwerden wie Angstzustände oder depressive Phasen abzumildern.